In den ersten beiden Artikeln meiner Familiengeschichte stand besonders das Zugehörigkeitsempfinden meiner Urgroßeltern und Großeltern im Mittelpunkt, im Kontext der Westverschiebung Polens. Diese stammen aus Oberschlesien und gehören zu den deutschen Spätaussiedlern. Aber welche Geschichten können uns die ‚postdeutschen‘ Orte und Häuser heute erzählen? Begeben wir uns mit meinem Vater auf einen Tagesausflug in verschiedene Ortschaften der Oppelner Woiwodschaft.
Zunächst geht die Reise von Oppeln aus nach Groß Strelitz/Strzelce Opolskie. Wir sehen das Krankenhaus, in dem mein Vater geboren wurde. Die Familie meiner Urgroßmutter ist damals mit dem Pferdewagen aus Poremba/Poręba auf den Markt in Groß Strehlitz gefahren, um Obst, Getreide, Leinen usw. zu verkaufen. Ansonsten hat mein Vater keine wirkliche Verbindung zu dieser Stadt. Wir sehen auch das Rathaus und die Schlossruine und fahren dann bereits weiter nach Kaltwasser/Zimna Wódka.

Foto: Victoria Matuschek
Ein Flüstern aus der Vergangenheit
Auf diesen Ort war ich besonders gespannt. In Kaltwasser stehen nämlich Haus, Stall und Scheune meiner Urgroßeltern, die sich noch in Familienbesitz befinden. Ich habe diese zuvor noch nie gesehen. Die Gebäude sind alt und wurden von der Familie meines Urgroßvaters gebaut; die Scheune ist aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und wurde nach einem Brand in den zwanziger Jahren wieder aufgebaut. Der Stall wurde 1898 fertiggestellt und 1957 bis 1958 umgebaut. Das Wohnhaus wurde 1962 neu gebaut, da das alte zu klein geworden war. Die Überreste des alten Hauses sind jedoch unter dem heutigen Haus verschüttet – dort liegt also die Vergangenheit begraben. Bereits vor etwa einem Jahr, als ich mich erstmalig intensiver mit meiner Familiengeschichte auseinandergesetzt habe, fragte ich mich, wie das Grundstück und die Gebäude wohl aussehen würden. Und was würden sie zu erzählen haben?

Foto: Victoria Matuschek
Ich stehe in der Novemberkälte und betrachte die Gebäude… Ohne die Erinnerungen meiner verstorbenen Urgroßeltern und ihrer Eltern sind sie allerdings nur Mauern – kalt und ausgebleicht von den Erlebnissen der Jahrzehnte und Jahrhunderte, denen sie ausgesetzt waren. Sie beherbergen noch alte Gegenstände meiner Familie: eine Dreschmaschine der Landmaschinenfabrik Hermann Raussendorf in der Scheune, ein verrosteter Anbindering für Pferde außen am Stall, ein altes Wasserwerk im Keller. Auch sind die Gebäude auf dem Familiengrundstück gekennzeichnet durch Risse, Dellen und allerlei Spuren, die vermutlich zu Lebzeiten meiner Urgroßeltern und Großeltern zustande gekommen sind.

Foto: Victoria Matuschek
Die polnische Westverschiebung und die damit verbundenen Vertreibungen der deutschen Bewohnerinnen und Bewohner der Ostgebiete des Deutschen Reiches sowie aus Ostmittel- und Südosteuropa stellen die größte Völkerwanderung der Geschichte nach 1945 dar. Rund vierzehn Millionen Ost- und Sudetendeutsche, fast zwei Millionen Polinnen und Polen sowie Menschen aus der Ukraine waren gezwungen ihre Häuser und auch einen Großteil ihres Hab und Guts zurückzulassen. Die Gebäude und die Gegenstände blieben. Oftmals wurden sie bewahrt und gingen so in das neue Leben und die neue Kultur über.
Auf unserem Ausflug in die Vergangenheit suchen wir nach den stillen Zeugen der Geschichte.
Karolina Kuszyk beschreibt in ihrem Buch „In den Häusern der anderen“, wie die ersten beiden Generationen von vertriebenen Polinnen und Polen in einer Atmosphäre der Feindschaft bzw. des Misstrauens gegenüber den Deutschen aufwuchsen. Gleichzeitig waren ihr tägliches Leben und selbst ihre Vorlieben stark beeinflusst von deutschen Gegenständen, Geräten, Formen und dem deutschen Geist. Dieser blieb allgegenwärtig und doch übersehen in den hinterlassenen Häusern und Gegenständen zurück. Schüsseln mit deutscher Schrift darauf, Möbel, Maschinen, ganze Häuser begleiteten über viele Jahre hinweg den Alltag vieler Polinnen und Polen – wie ein leises Flüstern aus der Vergangenheit.

Foto: Victoria Matuschek
Interessanterweise werden die von den Deutschen in Schlesien zurückgelassenen Dinge als ‚poniemieckie‘, anstatt nur als ‚niemieckie‘, bezeichnet, sprich als ‚nachdeutsch‘ oder ehemals deutsch. Christiane Hoffmann spricht in ihrem Roman „Alles, was wir nicht erinnern: zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“ auch von ‚verbotenen‘ Dingen. Aber verboten oder nicht, Mauern und Gegenstände können nicht reden. Sie können nur das Leben und die Strapazen widerspiegeln, die materiell wahrnehmbar sind. Sie können repariert werden, übermalt, zugespachtelt und letztendlich vergessen… Viele Häuser in Oberschlesien sind jedoch bis heute nicht wirklich instandgesetzt worden. Früher war es die Angst, die Deutschen könnten zurückkehren und ihre Häuser zurückverlangen, irgendwann war es dann vielleicht die Gewohnheit. So erinnern sich heutzutage die Gemäuer in Oberschlesien womöglich eher an die damaligen Geschehnisse als die Bevölkerung selbst.

Foto: Victoria Matuschek
Von Grabsteinen und verlorenen Wurzeln
Die Fahrt geht weiter nach Kandrzin-Cosel/Kędzierzyn-Koźle, wo mein Vater aufgewachsen ist. Die Stadt entstand durch den Zusammenschluss der Städte Cosel/Koźle und Kandrzin/Kędzierzyn im Jahre 1975. Das Wappen wurde von der Stadt Cosel übernommen, es stellt drei Ziegenköpfe dar. Wir fahren vorbei an einer Schlossruine, einem Park, der um die ganze Stadt herumgeht und in dem laut meinem Vater auch nichtheimische Bäume gepflanzt wurden.
Wir fahren zum Kindergarten, in den mein Vater damals gegangen ist, zum Wohnblock, wo er aufgewachsen ist, und an einer Eisenbahnbrücke vorbei, auf der er als Kind immer Münzen daraufgelegt hat, um sie von den Eisenbahnen plattfahren zu lassen. Wir besichtigen auch das Haus, in dem meine Großmutter als Waisenkind bei ihrem Onkel und dessen Familie aufgewachsen ist. Dieses ist ebenfalls gezeichnet von Spuren und Rissen und gehört den Töchtern des Onkels meiner Großmutter und ihren Nachkommen, zu denen wir allerdings keinen Kontakt haben.
Von da aus geht es nach Leschnitz/Leśnica auf den Friedhof, wo Familienmitglieder meiner Urgroßmutter begraben liegen, darunter ihr Bruder Hubert mit seiner Frau, deren Sohn Ryszard und die Eltern meiner Urgroßmutter Karl und Franziska Bugiel. Ryszard Bugiel starb im Alter von etwa 16 Jahren an einer Grippe, war jedoch schon sein ganzes Leben lang krank.

Foto: Victoria Matuschek
In Oberschlesien haben Grabstätten eine besondere Bedeutung, da nach dem Krieg massenhaft Gräber auf deutschen Friedhöfen ausgehoben und die Grabsteine herausgerissen wurden. Auch wurden die Namen deutscher Verstorbener mit Hammer und Meißel von den Steinen abgeschlagen. Es sollte keinerlei Erinnerung an die Menschen geben, die hier einst lebten und nun auf den Friedhöfen ruhten. Erinnerung spielt eine wichtige Rolle beim Heimatempfinden und der Konstitution von Zugehörigkeit. Christiane Hoffmann beschreibt Friedhöfe, die mit ihren Grabsteinen und Blumen an die Verstorbenen erinnern, sogar als Heimat: „Gräber sind Heimat, vielleicht noch mehr als Häuser. Die Toten wurzeln tiefer als die Lebenden. Die letzte Ruhestätte, ewige Heimat. Wohin gehören wir? Zu den Gräbern der Vorfahren, dem Ort, wo auch du ruhen wirst“.
Ich entdecke noch andere Gräber mit dem Nachnamen Bugiel, die meine Familie jedoch nicht kennt. Es gibt wohl sehr viele Bugiels in Poremba, Leschnitz, Groß Strehlitz und Umgebung. Mein Ururgroßvater Karl Bugiel hatte mindestens zehn Geschwister, die für eine große Verwandtschaft sorgten, in der sich nicht mal alle Familienmitglieder kannten. Ich frage mich, wie viele Verwandte ich wohl noch in der Gegend haben könnte, von denen ich nichts weiß.

Foto: Victoria Matuschek
Mein Ururgroßvater Karl Bugiel hat Ahnenforschung betrieben und die Wurzeln der Familie dabei sogar bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurückverfolgt. Er hat herausgefunden, dass die Bugiels ursprünglich von den französischen Hugenotten abstammen und davor wohl in Spanien waren. Doch leider wurden seine Aufzeichnungen im Krieg verbrannt, da alles beseitigt wurde, das man in deutscher Schrift gefunden hatte.
Verstreute Schicksale und das Erbe der Erinnerung
Der nächste Halt auf unserem Weg ist Poremba, der Ort, in dem meine Urgroßmutter mit ihrer Familie aufwuchs. Das einstige Familienhaus gehört heute vermutlich einem Cousin meines Großvaters, wie mir mein Vater erklärt – doch auch zu ihm besteht kein Kontakt mehr. Wann genau haben sich all diese Bande gelöst? Selbst meine Mutter, in Ratibor/Racibórz geboren, traf erst vor einiger Zeit eine Cousine in dem Dorf in Nordrhein-Westfalen, in dem meine Eltern leben – eine Verwandte, die ihr bis dahin völlig unbekannt war. Als Kinder und Kindeskinder Oberschlesiens, die weit verteilt leben, sollten wir Kraft schöpfen aus dem, was uns verbindet: der Erinnerung.

Foto: Victoria Matuschek
Zuletzt fahren mein Vater und ich noch auf den Sankt Annaberg, wo die Schwester meiner Urgroßmutter begraben liegt. Wir halten an einer Quelle, die am Pilgerweg zum Annaberg liegt und deren Wasser eine heilende Kraft besitzen soll. Wir trinken etwas von dem Wasser dieser Quelle und machen uns schließlich auf den Rückweg nach Oppeln – im warmen Licht des Sonnenuntergangs, begleitet nur von den bittersüßen Erinnerungen an diesen Tag und an die geliebten Menschen, die uns vorausgegangen sind.
Victoria Matuschek